Neom: grüner Traum oder glänzender Alptraum?
Wie wäre es, in einer Stadt zu leben, die keine Autos, keine Straßen und keine CO2-Emissionen hat? Eine Stadt, die sich wie eine Linie durch die Wüste zieht und sich an die natürliche Umgebung anpasst? Eine Stadt, die von einem der reichsten und mächtigsten Länder der Welt finanziert wird? Das ist die Vision von Neom, dem gigantischen Projekt, das Saudi-Arabien in den nächsten Jahren verwirklichen will. Doch hinter dem glänzenden Schein von Neom lauern auch Schattenseiten: Menschenrechtsverletzungen, Vertreibung von Einheimischen und ein Leben in einer künstlichen Blase. Neom ist die Stadt der Zukunft, die zugleich Hoffnung und Albtraum sein kann.
Neom ist der große Traum des saudischen Kronprinzen Mohammed Bin Salman (kurz: MBS). Dessen Name dürfte vielen noch im Zusammenhang mit der Ermordung des regimekritischen Journalisten Jamal Khashoggi vertraut sein; oder auch durch den letztjährigen Besuch von Olaf Scholz in den Vereinigten Arabischen Emiraten, als der Kanzler dort wegen möglicher Lösungen für die Energieversorgung Deutschlands vorstellig wurde. Der Prinz hat jedenfalls großes Interesse daran, sein autokratisch regiertes Land in einem guten Licht erscheinen zu lassen und den Reichtum Saudi Arabiens unabhängig vom Ölvorkommen des Landes zu sichern. Der Begriff Neom steht für „neue Zukunft“ und diese möchte Bin Salman für sich und sein Land erschaffen.
Lösungen für die dringenden Fragen unserer Zeit
Die Vision des Prinzen beinhaltet beileibe Neues, um nicht zu sagen: Revolutionäres. Die eigentliche Stadt, The Line genannt, die im Rahmen des Bauprojektes Neom entstehen soll, soll ihren Energiebedarf komplett emissionsfrei abdecken. Sie wird so konzipiert sein, dass alle Einrichtungen des täglichen Lebens für jeden Bewohner innerhalb von fünf Minuten zu Fuß erreichbar sein sollen. Das Klima in The Line soll von gleichbleibend angenehmen Temperaturen gekennzeichnet sein. Der eigentliche Clou ist jedoch die Bauweise: The Line soll ein gigantisches Gebäude von 170 km Länge, 200 m Breite und 500 m Höhe sein, verkleidet mit einer reflektierenden Hülle, die die brütende Hitze der sie umgebenden Wüste abhalten soll. In ihr soll ein Hochgeschwindigkeitszug dafür sorgen, dass man von einem zum anderen Ende der Stadt nur 20 Minuten braucht.
Die Idee dieser Zukunftsstadt ist durchaus faszinierend und scheint eine mögliche Antwort auf die vielen Herausforderungen unserer Zeit zu bieten. Statt riesige Flächen zu versiegeln, lässt The Line den allergrößten Teil der sie umgebenden Natur unberührt. Statt Massen an benötigter Energie aus der Ferne heran zu transportieren, erzeugt man sie weitestgehend selbst und so unschädlich, dass die Bewohner von The Line von gesunder Luft umgeben sein werden, die zudem durch integrierte Grünflächen erzeugt wird. Auch von Staus oder anderen Unannehmlichkeiten des Individualverkehrs soll man in der Wüstenstadt verschont bleiben. Dafür sorgt das Konzept der fußnahen Versorgung sowie die schon erwähnte schnelle Bahn.
Ist Neom machbar und wenn ja, wünschenswert?
Laut Mohammed Bin Salman sollen bereits 2030 über eine Million Menschen in The Line leben. Das darf jedoch bezweifelt werden, denn auch wenn die Bauarbeiten begonnen haben, dürfte ein Erstbezug in ein Objekt dieses Ausmaßes in weiter Ferne liegen. Viele halten die Umsetzung der Neom-Vision prinzipiell für unwahrscheinlich, denn alleine schon die Finanzierung scheint trotz des Reichtums des Wüstenstaats und Plänen, das Projekt an die Börse zu bringen, zumindest kurz- bis mittelfristig nicht möglich.
Zudem stellt sich sie Frage, wer in die Stadt der Zukunft ziehen sollte. Schließlich ist Saudi-Arabien als konservativ-islamischer Staat ohne Rechte für Frauen, ohne Meinungsfreiheit und einem Verbot von Homosexualität für westlich geprägte Menschen – und diese sollen hauptsächlich als Neubürger gewonnen werden – nicht attraktiv. Doch die privilegierten Bewohner von The Line bräuchten die strengen Gesetze, die Mohammed Bin Salman seinen Untertanen auferlegt und die u.a. Steinigungen und die Todesstrafe für Verstöße vorsehen, nicht fürchten. Sie würden in einer Art Selbstverwaltungsgebiet leben und so wahrscheinlich weitgehend die Freiheiten westlicher Prägung genießen dürfen.
Radikale Vision eines radikalen Machthabers
Die eigentliche Frage über die Bewertung von Neom stellt sich aber bezüglich seines Gründers, Mohammed Bin Salman. Soll man das Projekt eines Autokraten überhaupt unterstützen, auch wenn es noch so viele Probleme angeht? Allein die Tatsache, dass in The Line andere Gesetze gelten würden als im ansonsten fundamentalistisch-islamischen Saudi-Arabien schreit zum Himmel. Auch das Konzept an sich, das die Bewohner von The Line von der eigentlichen Natur komplett abschottet, kann man hinterfragen – sollten wir nicht vielmehr lernen im Einklang mit der Natur zu leben und nicht von ihr getrennt?
Ganz unabhängig von der Machbarkeit von Neom kann man das Projekt jedoch auch als Vorbild nehmen, um einige Probleme des Städtebaus anzugehen: weniger Versiegelung, weniger Individualverkehr, mehr saubere Energie. Neon bringt auf radikale Art zum Ausdruck, woran es in den bestehenden Städte krankt. Vielleicht regt die Vision dieser „neuen Zukunft“ ja gerade durch ihre abschreckende Radikalität dazu an, Probleme konsequenter anzugehen – damit wir nicht dazu verdammt sein werden, in Städten wie The Line leben zu müssen!